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György Kurtag (*1926)

Streichquartett op. 1 (1959, Marianne Stein gewidmet)

I. Poco agitato - II. Con moto - III.Vivacissimo/Lento - IV con spirito - V Molto sostenuto - VI Adagio

Kurtag stammte aus Rumänien, wurde 1948 ungarischer Staatsbürger und studierte Komposition in Budapest, u.a. bei Sandor Veress, der bekanntlich später jahrelang in Bern unterrichtete. Kurtag sieht sich in der abendländischen Musiktradition ("Meine Muttersprache ist Bartok, und Bartoks Mutterprache war Beethoven"). 1957/58 in Paris studierte er auch bei Milhaud und Messiaen. Dort geriet er in eine tiefe Schaffenskrise und begegnete der ungarischen Psychologin Marianne Stein. Diese riet ihm zu einfachsten Formen ("nur zwei Töne verbinden"). Aus diesem Anfang entstand in Budapest als erstes Werk in ganz eigenem Stil das Streichquartett op 1. Kurtag sagt zum ersten, nur eine Minute dauernden Satz: "Ein Insekt sucht den Weg zum Licht. Den Lichtschein versinnbildlicht der Flageolettakkord (am Schluss) und dazwischen all dieser Schmutz". Sieben Takte am Anfang bilden die  Exposition "Ein Fleckerlteppich, aus verschiedenen Farben und Mustern zusammengesetzt", Kurtag später: "Diese 7-Takt-Exposition ist nicht nur der Ausgangspunkt für diesen einen Satz, sondern für das ganze Quartett und darüber hinaus für ein ganzes Lebenswerk."  Das Quartett und überhaupt Kurtags Lebenswerk verbindet Bartoks urmusikantisches ungarisches Idiom mit dem aufs wesentlichste abgemagerten Minimalismus Weberns. Kurtags Musik ist nie Kopfgeburt, nie angewandte Theorie und nie geschwätzig. Sondern sie ist immer dichtester musikalischer Ausdruck, Gestus, Aussage, Klang. Deshalb ist Kurtag für den unvoreingenommenen Hörer leicht und sinnlich erfahrbar. Dabei assoziert Kurtag frei und ohne Scheu Techniken und Material anderer Komponisten (Schumann, Webern, Stravinski, etc.), was er oft deklariert, indem er das Stück den betreffenden als "Hommage" widmet. 

 


Acht Duos für Violine und Zymbal op.4

Kurtag selber schrieb zu diesen Stücken: Seltsamerweise ist meine Neigung zum Zymbal, das ich danach so oft verwendet habe, erst bei dieser Komposition von 1961 entstanden. Zuvor war mir das Instrument so gut wie unbekannt. Doch damals zeigte mir der Zymbalist József Szalay, ein eigenartiger Mensch, der fabelhaft spielte, eine halbe Stunde lang sein Instrument. Und eigentlich habe ich in diesen Duos so für Zymbal geschrieben, wie ich es später – weil immer noch etwas dazukam – nie mehr erreicht habe. Es scheint mir, als hätte ich damals die Seele des Instruments gefunden. Später könnte man bei meinen Stücken statt Zymbal wahrscheinlich auch Klavier einsetzen – hier aber keinenfalls. Dabei sind die Duos noch voll mit Webern’schen Gedanken, sie beginnen ähnlich wie irgendetwas von Webern zwischen op.6 und op.11, und nichts daran wirkt etwa typisch ungarisch. Dann freilich kommt, was mir damals freilich gar nicht bewusst war, im Tonfall auf unerwartete Weise doch etwas Ungarisches ins Spiel. Geschrieben habe ich die Duos im Auftrag der Geigerin Judit Hevesi, mit der ich seinerzeit als Korrepetitor für die Solisten der National-Philharmonie in Kontakt gekommen war. Sie war sehr experimentierfreudig. Und weil sie gelegentlich von der staatlichen Konzertorganisation aufs Land in kleinere Orte ohne Klavier geschickt wurde, bat sie mich um etwas für Geige und Zymbal. Ich konsultierte den Zymbalisten und schriebe in der Violinstimme quasi Übungsstücke für sie im Sinne unserer gemeinsamen Arbeit, also mit spieltechnischen Problemen, die sie weiterführen und ihre Ausdrucksfähigkeit bereichern sollten.



 

Kafka-Fragmente op. 24 für Sopran und Violine (1985-1986)

Aus den Tagebüchern und anderen Werken Kafkas nimmt Kurtag vierzig kurze expressive Fragmente - Einzelworte, Sätze. Er vertont für Stimme und Geige nicht eigentlich die Worte, sondern Seelenzustände und die Befindlichkeiten in der verdämmernden K. u. K. Monarchie. Wie in der barocken Musik werden Affekte dargestellt, aber in Kurtags ganz neuer originaler Musiksprache. Auch hier zitiert er Musikgeschichte: z.B. Schumann, oder die Walzermelodie der  "Szene in der Elektrischen" und Pierre Boulez erhält einen Nasenstüber. Das Werk kann bezüglich Umfang und Gewicht neben die grossen Liederzyklen des 19. Jahrhunderts gestellt werden.

I. TEIL 

1. DIE GUTEN GEHN IM GLEICHEN SCHRITT...
Die Guten gehn im gleichen Schritt. Ohne von ihnen zu wissen, tanzen die andem urn sie die Tänze der Zeit. 

2. WIE EIN WEG IM HERBST
Wie ein Weg im Herbst: Kaum ist er reingekehrt, bedeckt er sich mit den trockenen Blättern.

3. VERSTECKE 
Verstecke sind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglichkeiten der Rettung wieder so viele wie Verstecke

4. RUHELOS
Ruhelos

5. BERCEUSE I
Schlage deinen Mantel, hoher Traum um das Kind.

6. NIMMERMEHR (Excommunicatio)
Nimmermehr, nimmermehr kehrst Du wieder in die Städte, nimmermehr tönt die große Glocke über Dir.

7 "WENN ER MICH IMMER FRÄGT"
"Wenn er mich immer frägt." Das ä, losgelöst vom Satz, flog dahin wie ein Ball auf der Wiese.

8. ES ZUPFTE MICH JEMAND AM KLEID
Es zupfte rnich jemand am Kleid, aber ich schüttelte ihn ab.

9.DIE WEISSNÄHERINNEN 
Die Weißnäherinnen in den Regengüssen.

10.SZENE AM BAHNHOF 
Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt.

11. SONNTAG, DEN 19. JULI 1910 (BERCEUSE 11) (Hommage a Jeney)
Geschlafen, aufgewacht, geschlafen, aufgewacht, elendes Leben.

12. MEINE OHRMUSCHEL...
Meine Ohrmuschel fühlte sich frisch, rauh, kühl, saftig an wie ein Blatt.

13. EINMAL BRACH ICH MIR DAS BEIN (Chassidischer Tanz)
Einmal brach ich mir das Bein, es war das schönste Erlebnis meines Lebens.

14. UMPANZERT
Einen Augenblick lang fühlte ich mich umpanzert.

15. ZWEI SPAZIERSTÖCKE (Authentisch-plagal)
Auf Balzacs Spazierstockgriff: Ich breche alle Hindernisse.
Auf meinem: Mich brechen alle Hindernisse.
Gemeinsam ist das "alle".

16. KEINE RÜCKKEHR
Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.

17. STOLZ (1910/15. NOVEMBER, ZEHN UHR)
Ich werde mich nicht müde werden lassen. Ich werde in meine Novelle hineinspringen und wenn es mir das Gesicht zerschneiden sollte.

18. TRÄUMEND HING DIE BLUME (Hommage a Schumann)
Träumend hing die Blume am hohen Stengel.
Abenddämmerung umzog sie.

19. NICHTS DERGLEICHEN
Nichts dergleichen, nichts dergleichen.

 

ll. TEIL

DER WAHRE WEG (Hommage-message a Pierre Boulez)
Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über den Boden. Es scheint mehr bestimmt, stolpern zu machen, als begangen zu werden.

 

lll. TEIL

1. HABEN? SEIN?
Es gibt kein Haben, nur ein Sein, nur ein nach letztem Atem, nach Ersticken verlangendes Sein.

2. DER COITUS ALS BESTRAFUNG (Canticulum Mariae Magdalenae)
Der Coitus als Bestrafung des Glückes des Beisammenseins.

3. MEINE FESTUNG
Meine Gefangniszelle - meine Festung.

4. SCHMUTZIG BIN ICH, MILENA...
Schmutzig bin ich, Milena, endlos schmutzig, darum mache ich ein solches Geschrei mit der Reinheit. Niemand singt so rein als die, welche in der tiefsten Hölle sind; was wir für den Gesang der Engel halten, ist ihr Gesang.

5. ELENDES LEBEN (DOUBLE)
Geschlafen, aufgewacht, geschlafen, aufgewacht, elendes Leben.

6. DER BEGRENZTE KREIS
Der begrenzte Kreis ist rein.

7. ZIEL, WEG, ZÖGERN
Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern.

8. SO FEST
So fest wie die Hand den Stein hält. Sie hält ihn aber fest, nur um ihn desto weiter zu verwerfen. Aber auch in jene Weite führt der Weg.

9. VERSTECKE (DOUBLE)
Verstecke sind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglichkeiten der Rettung wieder so viele wie Verstecke.

10. PENETRANT JÜDISCH
Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt.

11. STAUNEND SAHEN WIR DAS GROSSE PFERD
Staunend sahen wir das große Pferd. Es durchbrach das Dach unserer Stube. Der bewölkte Himmel zog sich schwach entlang des gewaltigen Umrisses, und rauschend flog die Mähne im Wind.

12. SZENE IN DER ELEKTRISCHEN (1910: "Ich bat im Traum die Tänzerin Eduardowa, sie möchte doch den Csardas noch einmal tanzen..." )
Die Tänzerin Eduardowa, eine Liebhaberin der Musik, fährt wie überall so auch in der Elektrischen in Begleitung zweier Violinisten, die sie häufig spielen läßt.
Denn es besteht kein Verbot, warum in der Elektrischen nicht gespielt werden dürfte, wenn das Spiel gut, den Mitfahrenden angenehm ist und nichts kostet, das heißt, wenn nachher nicht eingesammelt wird.
Es ist allerdings im Anfang ein wenig überraschend, und ein Weilchen lang findet jeder, es sei unpassend. 
Aber bei voller Fahrt, starkem Luftzug und stiller Gasse klingt es hübsch.

 

IV.TEIL

1. ZU SPÄT (22. OKTOBER 1913)
Zu spät. Die Süßigkeit der Trauer und der Liebe. Von ihr angelächelt werden im Boot. Das war das Allerschönste. Immer nur das Verlangen, zu sterben und das Sich-noch-Halten, das allein ist Liebe.

2. EINE LANGE GESCHICHTE
Ich sehe einem Mädchen in die Augen, und es war eine sehr lange Liebesgeschichte mit Donner und Küssen und Blitz. Ich lebe rasch.

3. IN MEMORIAM ROBERT KLEIN
Noch spielen die Jagdhunde im Hof, aber das Wild entgeht ihnen nicht, so sehr es jetzt schon durch die Wälder jagt.

4. AUS EINEM ALTEN NOTIZBUCH
Jetzt am Abend, nachdem ich von sechs Uhr früh an gelernt habe, bemerkte ich, wie meine  linke Hand die Rechte schon ein Weilchen lang aus Mitleid bei den Fingern umfaßt hielt.

5. LEOPARDEN
Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer: das wiederholt sich immer wieder: schließlich kann man es vorausberechnen, und es wird ein Teil der Zeremonie.

6. IN MEMORIAM JOANNIS PILINSZKY
Ich kann... nicht eigentlich erzählen, ja fast nicht einmal reden; wenn ich erzähle, habe ich meistens ein Gefühl, wie es kleine Kinder haben könnten, die die ersten Gehversuche machen.

7. WIEDERUM, WIEDERUM
Wiederum, wiederum, weit verbannt, weit verbannt. Berge, Wüste, weites Land gilt es zu durchwandern.

8. ES BLENDETE UNS DIE MONDNACHT...
Es blendete uns die Mondnacht. Vögel schrien von Baum zu Baum. In den Feldern sauste es. Wir krochen durch den Staub, ein Schlangenpaar...

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